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Schutz der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in einer Pandemie und darüber hinaus

25.03.20 Editorial
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Die Schliessung einer Grenze nach der anderen, der drohende Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft und die besondere Verwundbarkeit der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte allerorts werfen ein Schlaglicht auf die prekäre Basis der Ernährungssicherheit und eine grosse, noch nicht berücksichtigte Herausforderung bei der Eindämmung der Ausbreitung des Virus. Um die Versorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen und gleichzeitig vor der Ausbreitung des Virus zu schützen, müssen Regierungen und supranationale Behörden unverzüglich Massnahmen ergreifen, um die Arbeits- und Lebensbedingungen der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, die mit ihrer Arbeitskraft die Welt ernähren, zu schützen.

Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit arbeiten in der Landwirtschaft. Rund 40% von ihnen sind als Lohnarbeiter/innen beschäftigt: die Männer und Frauen, die auf Farmen, Plantagen, in Obstanlagen und Gewächshäusern, in der Milchproduktion und in der Viehwirtschaft arbeiten. In vielen Teilen der Welt sind sie weitgehend unsichtbar, sie sind aber das Rückgrat der Weltgesellschaft.

Landwirtschaftliche Arbeitskräfte leiden unter extremer Armut, Unsicherheit, Präkarisierung und entkräftenden arbeitsbedingten Erkrankungen und Verletzungen. Nur 5% der in der Landwirtschaft Tätigen haben Zugang zu einem Arbeitsaufsichtssystem oder zu gesetzlichem Schutz ihres Rechts auf Gesundheit und Sicherheit. In vielen Ländern, darunter einige der reichsten, ist auf den Feldern von den Behörden nichts zu sehen: kriminelle Banden und Menschenhändler sagen, wo es langgeht. Die meisten landwirtschaftlichen Arbeitskräfte haben keinen Zugang zu Trinkwasser und angemessenen sanitären Einrichtungen. Viele sind Migranten und Migrantinnen, die über Grenzen hinweg von Ernte zu Ernte ziehen. Sie arbeiten auf Plantagen oder ziehen von einer Farm zur anderen und wohnen dort, wo sie arbeiten, und ihre beengten, ungesunden, menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen sind eine riesige Laborschale für die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten.

Ein globaler Gesundheitsnotstand hat jetzt die grundlegende Wahrheit vor Augen geführt, dass “ohne diese Arbeitskräfte alles aufhört, zu existieren”, wie der Vizepräsident der Apple Association der Vereinigten Staaten vor Kurzem erklärte. Den Landwirten in den USA fällt es seit der Schliessung der Grenze zu Mexiko schwer, den Nachschub an landwirtschaftlichen Arbeitskräften sicherzustellen. Wer sorgt aber für die Gesundheit und Sicherheit der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, deren Arbeitskraft jetzt benötigt wird, zumal das Virus sich ausbreitet?

Es bedarf gezielter Massnahmen zum Schutz der Gesundheit der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, um die allgemeine Bevölkerung zu schützen und die Versorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Eine potenzielle Krise der Lebensmittelproduktion kann nicht bewältigt werden, wenn sie einfach als vorübergehender Liquiditäts- oder Arbeitskräfteengpass abgetan wird.

In einem Schreiben des Agrarkommissars der Europäischen Union, Janusz Wojciechowski, vom 19. März an die EU-Landwirtschaftsminister wird festgestellt, dass “die Ausgangssperre in vielen Mitgliedstaaten für viele Sektoren, einschliesslich der Agrar- und Ernährungswirtschaft, extreme Härten mit sich bringen wird”, und zu Massnahmen aufgerufen, um die Anstrengungen unserer Bauern, der Agrar- und Ernährungsindustrie und der Einzelhändler zur Sicherung der Lebensmittellieferkette weiterhin zu unterstützen”. Gilt ‘extreme Härten’ auch für verletzliche, ausgebeutete Arbeitskräfte? Umfassen diese ‘Massnahmen’ auch die Sicherung der Versorgung der Arbeitskräfte mit Seife, Trinkwasser, Desinfektionsrmitteln, Schutzausrüstung und medizinischen Leistungen? Einkommensunterstützung? Verpflegung und Unterkunft für die Arbeitskräfte, die soziale Distanz und Quarantäne ermöglichen? Krankengeld? Hilfe bei Plünderungen durch kriminelle Banden?

In den Vereinigten Staaten hat das Ministerium für Heimatschutz, eine Behörde ohne einschlägige Erfahrung, angekündigt, dass die “Förderung der Fähigkeit unserer Beschäftigten in der Agrar- und Ernährungsindustrie zur Weiterarbeit in Zeiten öffentlicher Einschränkungen, sozialer Distanzierung und Ausgangsverboten usw. für die Kontinuität und die Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung ist”. Leitlinien werden von den einzelnen Bundesstaaten erlassen. Das Landwirtschaftsministerium des Bundesstaates Pennsylvania hat, vielversprechend, erklärt, dass die “Rolle der Landwirtschaft unbestreitbar ist: der Zugang zu Nahrungsmitteln ist ein Recht; wir brauchen die örtliche Landwirtschaft jetzt mehr denn je”. In seinen spezifischen “Leitlinien” heisst es aber nur, dass die Beschäftigten Informationen zu Hygienemassnahmen erhalten und Menschenansammlungen meiden sollten; kranke Arbeiter und Arbeiterinnen sollten nach Hause geschickt werden. Die Arbeiter und Arbeiterinnen benötigen aber mehr als Informationen; sie benötigen Seife, Wasser, Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung. Um Menschenansammlungen zu meiden, benötigen sie entsprechende Transportmittel, Unterkunft und Verpflegung. Und wo ist ‘nach Hause’ für Migranten und Migrantinnen?

Im Zuge der Ausbreitung des Virus gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Länder das Ausmass und die eigentlichen Ursachen der potenziellen Krise des Ernährungssystems angehen und entsprechende Vorsorge treffen. Die internationalen Organisationen verhalten sich nicht besser. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen hat eine Reihe von Fragen und Antworten (auf Englisch) zu den Auswirkungen von COVID-19 auf Ernährung und Landwirtschaft herausgegeben, von denen eine lautet: “Wessen Ernährungssicherheit und Lebensgrundlagen sind durch die Pandemie am meisten gefährdet?” Die Arbeitnehmer/innen werden in der Antwort nicht erwähnt. In einem IAO - Briefing (auf Englisch, Covid-19 and World of Work: Impacts and Responses) vom 18. März werden die spezifischen Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte und die Folgen für die Ernährungssicherheit verschwiegen.

Nationale Regierungen und internationale Institutionen müssen unverzüglich erhebliche, unbegrenzte Mittel zur Verfügung stellen, um für einen angemessenen Schutz und sichere Arbeit für landwirtschaftliche Arbeitskräfte als elementare Massnahme zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Ernährungssicherheit zu sorgen. Strenge, am Arbeitsplatz durchgesetzte Massnahmen sind erforderlich, um vor Lohndiebstahl und einer Intensivierung der Arbeit zu schützen. Wo Arbeitskräfte knapp sind, sollte die Rekrutierung zusätzlicher Arbeitskräfte, denen durch mit den Gewerkschaften geschlossene Vereinbarungen ein existenzsichernder Lohn garantiert wird, rasch unter demokratischer Aufsicht organisiert werden.

Trinkwasserversorgung und ausreichende Hygiene müssen sofort Vorrang erhalten. Sicherer Transport und sichere Unterkunft müssen rasch organisiert werden, damit die Kontinuität der Produktion und des Vertriebs sichergestellt und gleichzeitig die Gesundheit der Beschäftigten und der breiteren Öffentlichkeit geschützt werden kann. Wo die Arbeitgeber dazu nicht bereit oder in der Lage sind, müssen die Regierungen einspringen.

Gestrandete Migranten und Migrantinnen sind unter diesen Umständen ein Segen. Jetzt ist es an der Zeit, die Kenntnisse und die Erfahrung von Arbeitskräften zu nutzen, die zu lange als ‘unqualifiziert’ und leicht ersetzbar angesehen worden sind. Die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte und ihre Gewerkschaften auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene müssen bei der Planung und Umsetzung von Notfallmassnahmen, einschliesslich der Ausweitung der lokalen Produktion, eine wesentliche Rolle spielen.

Das IAO-Übereinkommen 184 über den Arbeitsschutz in der Landwirtschaft ist 2001 angenommen worden. Ziel des Übereinkommens ist es, landwirtschaftlichen Arbeitskräften das gleiche Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen wie anderen Arbeitnehmern zu gewährleisten. Es legt das Recht der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft fest, “an der Anwendung und Überprüfung der Arbeitsschutzmassnahmen mitzuwirken und in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Gesetzgebung und Praxis Arbeitsschutzvertreter und Vertreter in Arbeitsschutzausschüssen zu wählen” und “sich bei Gefahr infolge ihrer Arbeit in Sicherheit zu bringen, wenn sie hinreichenden Grund zu der Annahme haben, dass ein unmittelbares und erhebliches Risiko für ihre Sicherheit und Gesundheit besteht, und unverzüglich ihren Vorgesetzten entsprechend zu informieren. Sie dürfen wegen dieser Massnahmen nicht in irgendeiner Weise benachteiligt werden”.

 

Es schreibt auch Massnahmen vor, “um sicherzustellen, dass Zeit- und Saisonarbeitskräften im Bereich der Sicherheit und Gesundheit der gleiche Schutz zuteil wird wie vergleichbaren ständig beschäftigten Arbeitskräften in der Landwirtschaft”, und fordert die Aufnahme von landwirtschaftlichen Arbeitskräften in Systeme der Sozialen Sicherheit und Krankenversicherungsysteme, die denjenigen der Arbeitnehmer in anderen Sektoren gleichwertig sind.

Diese Rechte stellen in der gegenwärtigen Krise und darüber hinaus Handlungsleitlinien dar. Ein allgemeines Krankengeld ist keine ‘Krisenmassnahme’, die abgeschafft wird, sobald die Übertragungskurve sich abflacht. Die Pandemie hat die Torheit des Zerfetzens der öffentlichen Gesundheitsversorgung, um den Appetit der Investoren zu befriedigen, aufgedeckt. Wir stehen jetzt vor der Schwäche eines Ernährungssystems, das sich derjenigen entledigt, die uns ernähren. Es bedarf massiver Investitionen in den Schutz der Gesundheit und Sicherheit der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, um das Coronavirus zu bekämpfen, und diese Investionen müssen auf Dauer fortgeführt werden, wenn diese Krise vorbei ist.