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Regulierung der Regulierer? Vorgeschlagene neue Massnahmen für die Zulassung von Pestiziden in der Europäischen Union

19.02.19 Editorial
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Die Kampagne zur Verhinderung der Wiederzulassung von Glyphosat in der Europäischen Union hat nicht zu einem Verbot von Glyphosat geführt, es ist ihr aber glänzend gelungen zu enthüllen, dass die agrochemische Industrie die Regulierungsbehörden, denen der Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt obliegt, fest im Griff hat. Die Nachbeben der Kampagne halten an.
Im Gefolge der Enthüllungen der Monsanto Papers und wirksamer Kampagnen zur Kanalisierung der öffentlichen Empörung wegen der grotesken Wiederzulassung des weltweit am häufigsten eingesetzten Herbizids durch die EU setzte das Europäische Parlament letztes Jahr einen Pest-Sonderausschuss ein zur Prüfung der Verfahren, nach denen Pestizide in der Europäischen Union zugelassen werden. Der Bericht des Ausschusses, der im Dezember 2018 veröffentlicht und am 16. Januar von einer überwältigenden parteiübergreifenden Mehrheit des Parlaments gebilligt wurde, katalogisierte die zahlreichen Versäumnisse des Zulassungsverfahrens. Dazu gehören: Verlass auf die eigenen (nicht veröffentlichten) Sicherheitsbewertungstudien der Branche, denen zufolge sich keine Hinweise auf Toxizität ergaben, in krassem Gegensatz zu den veröffentlichten, von Fachkollegen überprüften unabhängigen Untersuchungen, die die Internationale Agentur für Krebsforschung der WHO dazu veranlassten, Glyphosat als wahrscheinlich krebserregend einzustufen, der Mangel an Tests unter realistischen Bedingungen und das Fehlen von Folgetests; die Vernachlässigung von chronischer Toxizität und das institutionalisierte Fehlen von Transparenz. (Der Bericht ist hier zugänglich, und es lohnt sich, ihn ganz zu lesen.)
Wenige Stunden vor der Abstimmung am 16. Januar wurden die Ergebnisse einer Studie (auf Englisch) veröffentlicht, die von einer Koalition aus Abgeordneten der Sozialisten und Demokraten/Grünen/Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken des europäischen Parlaments in Auftrag gegeben worden war. Die Studie bestätigte, dass die vom deutschen Bundesinstitut für Risikobewertung erstellte Glyphosat-Sicherheitsbewertung, auf die sich die Entscheidung der Europäischen Agentur für Lebensmittelsicherheit (EFSA), Glyphosat wieder zuzulassen, stützte, grosse Mengen an aufbereiteten, kopierten und eingefügten Monsanto-Textstellen enthielt. Ein Sprecher der EFSA erklärte dessen ungeachtet, dass die "EFSA fest zur Integrität ihrer Risikobewertungsverfahren und ihrer Schlussfolgerungen zu Glyphosat steht".
In Anbetracht dessen, dass die europäischen Institutionen aufgrund der vielen Skandale zunehmend unter Druck stehen, erzielten der Rat und das Parlament der EU am 11. Februar eine  'vorläufige Vereinbarung' über Massnahmen im Hinblick auf eine erhebliche Überarbeitung der Risikobewertungsverfahren für die Zulassung von Produkten in der Nahrungskette, einschliesslich Pestiziden. Die neuen Verfahren stellen, sofern sie umgesetzt werden, einen erheblich ersten Teilerfolg für die Glyphosat-Kampagne dar. Sie bleiben hinter den PEST-Empfehlungen (und den Forderungen der Europäischen Bürgerinitiative) zurück, können aber als Hebel dienen, um die Macht der Pestizid-Lobby über die öffentlichen Regulierungsstellen zu lockern.
Nach den vorgeschlagenen neuen Verfahren (siehe das Fact Sheet der EU-Kommission) (auf Englisch) wird ein Hersteller nicht mehr einseitig einen berichterstattenden Mitgliedstaat benennen können, der einen Antrag auf Zulassung/Wiederzulassung auf Basis vertraulicher Industrieberichte absegnet. Sicherheitsbewertungen werden nach wie vor von dem die Zulassung beantragenden Hersteller vorgelegt werden, die Berichte werden aber veröffentlicht werden, zugänglich sein und einer Überprüfung und kritischen Beurteilung unterliegen.
Zu den Änderungen der Verfahren des EFSA-Verwaltungsrats gehört unter anderem eine Kontrollfunktion für die Zivilgesellschaft, die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament. Die EFSA kann auch eigene, aus dem EU-Haushalt finanzierte Risikobewertungsstudien in Auftrag geben.
Der Teufel liegt im Detail, und jeder potenzielle Druckpunkt für eine Erweiterung der öffentlichen Aufsicht wird vehement angefochten werden, z.B. Festlegung der Gründe für die Anfechtung einer Industriestudie, Benennung der 'Stakeholder', Bestimmung des 'Konsultations'verfahrens, Sicherstellung von Transparenz und Folgemassnahmen.
Ausserdem ist die vorgeschlagene breitere Verfahrensreform nicht auf die Zulassung von Pestiziden beschränkt. Die vorläufige Vereinbarung umfasst eine Überprüfung der Verordnung über das Allgemeine Lebensmittelrecht, die die Änderung von acht verschiedenen Rechtsvorschriften erfordert, die bestimmte Sektoren der Nahrungskette betreffen. Dazu gehören neben Pestiziden GVO, Futter- und Nahrungsmittelzusätze, Lebensmittelkontakt-Materialien und 'neuartige Lebensmittel' (eine Kategorie, die Lebensmittel ohne eine nennenswerte Verbrauchshistorie in der EU vor 1997 oder Lebensmittel einschliesst, die unter Einsatz neuer Produktionsverfahren hergestellt werden, wie im Labor hergestellte Fleisch- und Molkereiprodukte). Die vollen Auswirkungen sind noch breiter, da die Sicherheitsbewertungsverfahren der EFSA denen ander wissenschaftlicher Institutionen der EU vergleichbar sind, auf die die Regulierer sich stützen, wie die Europäische Chemikalienagentur ECHA.
Wie geht es weiter? Die Kommission wird dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten bestimmte Legislativvorschläge "in der laufenden Legislaturperiode, d.h. bis Mitte 2019, zur raschen Umsetzung" vorlegen.
Die Kommision muss beim Wort genommen werden, und es darf ihr nicht gestattet werden, sich hinter den Mitgliedstaaten zu verstecken, eine Karte, die sie mit Erfolg ausgespielt hat, um die Wiederzulassung von Glyphosat trotz massiven öffentlichen Widerstands durchzudrücken. Sie setzt erneut auf diese unlautere Karte, um Massnahmen zum Verbot der Pestizide, die die bestäubenden Insekten Europas dezimieren, hinauszuzögern, wobei sie die Verantwortung für ihre erbärmliche Kapitulation vor der Agrochemie-Lobby den Mitgliedstaaten zuschiebt.
Die Kommission hat jedoch die Wirkung der Europäischen Bürgerinitiative zum Verbot von Glyphosat anerkannt, die mehr als eine Million Unterschriften gesammelt hat. Die Glyphosat-Kampagne hat ein breites Spektrum von zivilgesellschaftlichen Gruppen, Umweltschutzgruppen und Gewerkschaften zusammengeführt. Die IUL/IUL-EFFAT gehörten zu den ersten Unterstützern der Koalition Citizens for Science in Pesticide Regulation (auf Englisch). Alle diese Bemühungen trugen zu der politischen Dynamik bei, die dazu führte, dass der PEST-Bericht von 77% der Europa-Abgeordneten angenommen wurde.
Ein Fenster ist geöffnet worden; die Pestizid-Lobby wird alles tun, um es zuzuschlagen. Jetzt ist es an der Zeit, die Organisierung auf breitestmöglicher Basis auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene zu verstärken, um ein sofortiges Verbot der giftigsten Agrochemikalien, gezielte Reduzierungen des Pestizideinsatzes und umfassende Unterstützung für einen Übergang zu einer sozial- und umweltverträglichen Landwirtschaft zu erreichen.