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Der Tag der Arbeit ist unser Tag, trotz der Einschränkungen

30.04.20 Editorial
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Die Worte, die letztes Jahr während der Massenproteste in Chile auf eine Wand projiziert wurden, hallen jetzt überall in der Welt wider: ‘Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, denn die Normalität war das Problem’. Die schwere Wirtschaftskrise, die die Ausbreitung von COVID-19 begleitet, wirft ein grelles Schlaglicht auf diese Normalität.

Die Pandemie hat die Unfähigkeit unserer Gesundheitssysteme enthüllt, einen Notstand zu bewältigen, der vorhersehbar war und vorhergesagt wurde. Die Gesundheitsfürsorge, ein grundlegendes Menschenrecht, ist durch jahrelange Zwangssparmassnahmen, Auslagerung, ‘Just-in-time’-Management und Profitzwänge stark geschwächt worden. Jetzt, angesichts eines Notstands, kämpfen die Gesundheitsfachkräfte mutig mit einem erdrückenden Mangel an Personal, Schutzausrüstung, lebensnotwendigem Material und medizinischen Einrichtungen. Pflegeheime sind für kranke und ältere Menschen zu Massengräbern geworden.

Die Gesundheitskrise ist symptomatisch für eine grössere Pathologie. Die Tafeln in den reichen Ländern sind überfordert, und auf den Strassen Indiens sind Millionen von Tagelöhnern unterwegs, weil anhaltende Unsicherheit ein Allgemeinzustand ist. Die Regierungen sprechen von der Überwindung der Angst im Kampf gegen ‘einen unsichtbaren Feind’, aber die ‘Normalität’ wurzelt in Angst: der Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, der Angst, ausgewiesen zu werden, der Angst, zu erkranken oder sich zu verletzen, der Angst, in eine Schuldenfalle und in Armut zu geraten, der Angst vor Vergeltungsmassnahmen, weil man sich zur Wehr setzt und Solidarität organisiert. Der Tag der Arbeit und die internationale Arbeiterbewegung sind aus dem Kampf gegen die Ausbeutung hervorgegangen, die dieser Angst zugrunde liegt.

Wie die Bergleute, die während des vergangenen Jahrhunderts für Seife sowie höhere Löhne und bessere Grubensicherheit streikten, so mussten in der derzeitigen Krise die Beschäftigten hochprofitabler Fleisch- und Geflügelkonzerne für einen elementaren Arbeits- und Gesundheitsschutz streiken. Gastronomie- und Gastgewerbebeschäftigte, die noch arbeiten, führen den gleichen Kampf, da die Arbeitgeber sich gegen grundlegende Massnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus und zur Rettung von Menschenleben sperren. IUL-Mitgliedsverbände kämpfen für Seife sowie sauberes Wasser, sichere Transportmittel und Unterkünfte und anständige Löhne für landwirtschaftliche Arbeitskräfte.

Beschäftigte im Lebensmittelsektor und landwirtschaftliche Arbeitskräfte, die früher als entbehrlich angesehen wurden, gelten jetzt als ‘unverzichtbar’. Wird diese Anerkennung über die Krise hinaus zu Investitionen in das Gesundheitswesen und in öffentliche Dienstleistungen, zu sichererer Arbeit für all jene, die einen Beitrag zur Ernährung der Welt leisten, einem uneingeschränkten Schutz der Gewerkschaftsrechte und wirklichen Schritten hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem führen?

Eine ideologische Kehrtwende hat die Reaktion auf die Krise begleitet. Ausgeglichene Haushalte, ein ‘schlanker Staat’ und Sparmassnahmen werden vergessen (aber nicht von allen Finanzministern der Europäischen Union); Regierungen stellen riesige Summen zur Verfügung, um Zusammenbrüche zu vermeiden, und lassen Geld sogar direkt in die Taschen der Menschen fliessen. Erleben wir gerade ‘das Ende des neoliberalen Kapitalismus’, wie die französische Bank Natixis vor Kurzem behauptete?

Als das globale Finanzsystem 2008 zusammenbrach, wurden ausserordentliche Massnahmen zu seiner Wiederbelebung getroffen, und man sagte uns, dass nichts so bleiben könne wie zuvor. Das öffentliche Finanzwesen wurde auf Staatskosten wiederbelebt, danach kehrten wir zur ‘Normalität’ zurück. Ein grosser Teil der Welt litt immer noch unter den Folgen dieser fehlgeschlagenen Reaktion, als COVID-19 auftauchte. Die ‘Normalität’ taumelt von einer Krise zur anderen, und wir sind mit einem globalen Klimanotstand konfrontiert.

Werden die Regierungen ein aufgeblähtes Finanzsystem disziplinieren, das (wiederum) einen grosszügigen Teil der Rettungspakete erhält, ohne demokratische Aufsicht? Werden sie in noch höherem Masse auf ‘öffentlich-private Partnerschaften’ setzen, wenn eine Rückkehr zur Normalität erklärt wird und es wie gewohnt weitergeht, weil ‘es keine Alternative gibt’? Werden sie die erforderlichen Mittel bereitstellen, um einen ökologischen Kollaps zu verhindern? Werden Arbeitsmigranten und -migrantinnen, denen als Krisenmassnahme jetzt ein Aufenthaltsrecht gewährt wird, ihre Aufenthaltsgenehmigungen behalten, wenn die Pandemie sich abschwächt, und werden auch auf künftige Migranten und Migrantinnen davon profitieren? Werden landwirtschaftliche Arbeitskräfte weiterhin für Seife kämpfen müssen?

Die Antwort hängt in hohem Masse von uns ab. Der Status quo ist nicht nur unhaltbar, wie die australische United Workers Union (auf Englisch) zu Beginn der Krise erklärte: 'Momente des Bruchs schaffen Raum und geben Anstösse für Veränderungen.' Sozialer Fortschritt ist nie spontan aus einem Zusammenbruch entstanden; wir müssen diesen Raum gestalten. Wenn öffentliche Güter nach der Rückkehr zur Arbeit öffentlicher Kontrolle unterstellt werden sollen, bedarf es einer sehr viel stärkeren Arbeiterbewegung und einer ehrgeizigeren politischen Agenda. Und wenn wir tatsächlich die Rückkehr des Staates erleben, nachdem man uns jahrzehntelang gepredigt hatte, dass ‘der Markt’ die einzige Institution ist, auf die die menschliche Gesellschaft gegründet werden kann, was für ein Staat wird das dann sein? Unter dem Deckmantel der Krise setzen viele Regierungen ihre Attacken auf die Rechte fort, und die Krise gibt ihnen neue Instrumente an die Hand. Autoritäre Regierungen werden gestärkt aus der Pandemie hervorgehen, wenn wir uns nicht organisieren, um die demokratischen Rechte zu verteidigen, die wir benötigen, um gemeinsam atmen, organisieren und kämpfen zu können.

Seit 1890 begehen die Arbeiter und Arbeiterinnen weltweit den Tag der Arbeit in Streikpostenketten, auf Kundgebungen, in Gefängnissen, in Konzentrationslagern und inmitten von Aufständen; in diesem Jahr werden wir erstmals seit 130 Jahren nicht auf die Strasse gehen. Der Tag der Arbeit bleibt aber unser Tag, der Tag, an dem die Arbeiterschaft ihre globale Solidarität und ihr globales Engagement für den Kampf für eine neue Welt bekräftigt.