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Gewerkschaften in Haiti kämpfen für die Rettung des Landes und benötigen internationale Unterstützung

15.11.19 Editorial
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Nationale Aufstände gegen Armut, Ungleichheit und Sparmassnahmen sind in den letzten Monaten in ganz Lateinamerika und anderen Teilen der Welt aufgeflammt und haben Regierungen überrascht, die von dem institutionalisierten Elend, über das sie herrschen, abgeschottet sind. Ihr Ergebnis ist ungewiss: in Chile gehen Millionen von Menschen weiterhin auf die Strasse, da sie nicht bereit sind, ihren Kampf gegen eine ganze Sozialordnung als Gegenleistung für geringe Zugeständnisse aufzugeben. In dem verarmten Land Haiti dagegen hält die Mobilisierung einer entschlossenen Bevölkerung, die sich trotz einer zunehmend verzweifelten Lage nicht mit Gewalt und Hunger abfinden will, seit mehr als einem Jahr an.

Im Oktober letzten Jahres entstand eine Massenbewegung, die forderte, die Regierung wegen des Verschwindens von Milliarden von Dollar an staatlichen Mitteln zur Rechenschaft zu ziehen. Die von den USA gestützte Regierung von Jovenel Moïse, der 2016 in einer durch Betrug und eine Wahlbeteiligung von weniger als 20% gekennzeichneten Farce “gewählt” wurde, hat darauf nur mit erbarmungsloser Gewalt reagiert. Moïse und seine Familie und seine Kumpane sind unmittelbar in massive Korruption und die Organisierung von paramilitärischer Gewalt verwickelt, die allgemein “Banden” zugeschrieben, aber im Präsidentenpalast organisiert wird. Die ohnehin schon dürftige Kaufkraft der Bevölkerung ist unter seiner Herrschaft um die Hälfte gesunken.

Während Moïse einen Rücktritt ablehnt, hat sich der gesamte Staatsapparat in Luft aufgelöst; was bleibt, sind Gewalt und Erpressung. Haiti hat keine funktionierenden Krankenhäuser, Schulen und Gerichte und kein funktionierendes Parlament, und es gibt keinen Treibstoff und keine Devisen für die Bezahlung der Lebensmittelimporte, auf die das Land angewiesen ist. Haitis Fähigkeit, sich zu ernähren, wurde durch den gescheiterten Versuch zerstört, das Land in eine gigantische Exportfreizone zu verwandeln, als Neoliberalismus gewaltsam auf fest verankerte Korruptionsnetzwerke aufgepfropft wurde. Ausländische Unternehmen schliessen und verlassen das Land. Hunger, Krankheiten und der Tod suchen das Land heim. Doch der Widerstand geht weiter.

Der Widerstand gegen ausländische Interventionen ist tief in das nationale Bewusstsein eingebrannt, eine Folge der Rebellion gegen den französischen Kolonialismus, der US-Invasion und –Besatzung von 1915 (die Zwangsarbeit einführte) und des Staatsstreichs von 1991, mit dem Haitis erster demokratisch gewählter Präsident, Jean Bertrand Aristide, gestürzt wurde. Das Land hat sich immer noch nicht von dem Erdbeben im Jahr 2010 erholt, bei dem rund 220 000 Menschen den Tod fanden und über eine Million ihr Zuhause verloren. Friedenssicherungskräfte der Vereinten Nationen brachten die Cholera und Übungsschiessen auf die städtischen Armen für die in Brasilien stationierte Friedensgruppe; NGOs brachten den Menschenhandel zu sexuellen Zwecken.

Politische Parteien, die traditionell als von ausländischen Mächten gestützte Patronage-Netzwerke fungiert haben, haben heutzutage in Haiti jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Die politische Krise ist ebenso vollständig wie der soziale Zusammenbruch, was mit dem Begriff 'humanitäre Krise' nicht annähernd zum Ausdruck gebracht wird.

Am 10. Oktober führte eine breite Koalition aus rund 150 überparteilichen zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Massnahmenplattform ein, um die Krise über eine Brücke (Passerelle) zum demokratischen Übergang zu bewältigen. Zu den Unterzeichnern gehören 51 Gewerkschaftsorganisationen, darunter die dem IGB angeschlossenen nationalen Dachverbände, die führenden Arbeitgeberverbände, Bauernverbände sowie Jugend-, Studenten-, Religions- und Bürgerrechtsorganisationen. Die Passerelle fordert unter anderem den sofortigen Rücktritt des Präsidenten und die sofortige Auflösung des handlungsunfähigen Parlaments, die Revision des Wahlsystems und Massnahmen zur Sicherstellung einer zivilgesellschaftlichen Beaufsichtigung späterer Wahlen sowie Notmassnahmen zur Bewältigung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs.

Die Lage ist instabil, und die Politik in Haiti wird manipuliert. Das Land benötigt massive Unterstützung, aber nicht die 'Hilfe' der vergangenen Jahre. Die Bevölkerung Haitis weiss sehr wohl, was sie nicht will. Die gewerkschaftliche Mitarbeit und Unterstützung im Rahmen der Passerelle zeigt einen Weg für die internationale Solidarität auf. Die IUL bekräftigt ihre uneingeschränkte Solidarität mit unserem Mitgliedsverband SYTBRANA und mit den vielen Gewerkschaften in Haiti und ihren zivilgesellschaftlichen Verbündeten, die sich um eine interne Beilegung der Krise bemühen, und fordert die internationale Gewerkschaftsbewegung mit Nachdruck auf, unsere Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen, die über ihre Gewerkschaften dafür kämpfen, einen Zusammenbruch zu verhindern und ihr Land auf einem neuen Fundament wiederaufzubauen.